Begriff der Würde schärfen

VON ROLF BIRKHOLZ
Gütersloh. Welche Utopien, welche parteiübergreifenden Anstöße könnten heute gesellschaftlich bewegen wie einmal Willy Brandts "mehr Demokratie wagen"? Das fragte Klaus Brandner, gerade nach 15 Jahren Bundestag von seiner Partei verabschiedet, als er in einen Abend mit dem bekannten Sozialphilosophen Professor Oskar Negt einführte. Der empfahl, man müsse "allmählich nachdenken" über eine "solidarische Ökonomie" und den Begriff der Würde des Menschen wieder schärfen.
Für Brandner ist Negt, der bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno studiert hat, bei diesem promoviert wurde, dann Assistent von Jürgen Habermas gewesen ist und von 1970 bis 2002 den Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Hannover innehatte, schon seit der Bildungsarbeit in der Gewerkschaftsjugend ein Begriff. "Und auf wen wurde man da ganz schnell gestoßen: Oskar Negt."
Einst ein Wortführer der Außerparlamentarischen Opposition, hat der linke Denker gleichwohl eine Grundloyalität zur SPD gewahrt, für die er sich zumal im 1998er Wahlkampf stark gemacht hat. Gegenwärtig sehe er aber einen "Orientierungsnotstand" bei allen Parteien und auch anderen gesellschaftlichen Gruppen, wie er den gut 50 Zuhörern im Hotel Appelbaum erklärte. Alte Normen, überkommene Einstellungen gälten nicht mehr, neue seien noch nicht gefunden, sprach der 79-Jährige von einer "Suchbewegung".
Parteien müssten andere Organisationsmodelle entwickeln, sonst drohe Profillosigkeit, was "am schlimmsten" sei. In drei "Schichtungen" gab Negt eine Zustandsbeschreibung. Er beobachte zum einen "Polarisierungen": beim Reichtum, der heute ähnlich stark auf wenige konzentriert sei wie vor der Französischen Revolution, im Bildungssystem, das Arme ausgrenze, und in der Trennung von Zentrum und Peripherie in den Städten, was ein Gewaltpotential berge. Zum anderen fürchte er durch die "Flexibilisierung" des Menschen, die "Ideologie der Fragmentierung", eine "De-Solidarisierung" der Gesellschaft.
Schließlich wies er auf eine weitere Dreiteilung hin: sich wohl fühlende Integrierte, Leute in prekären Verhältnissen und die "wachsende Armee der dauerhaft Überflüssigen". Oskar Negt erinnerte an die nach den Erfahrungen des "Dritten Reichs" auch durch Kompromisse gewonnene, von der SPD bis zur katholischen Soziallehre geteilte Einsicht: "Der Sozialstaat war die Antwort auf den Faschismus." Menschen sollten nicht mehr fortwährend im Überlebenskampf stecken, davon profitierten nur rechtsradikale Kräfte.
Der heutige, oft mit Arbeitsplatzvernichtung erkaufte Reichtum der Gesellschaft würde nach Negt von jenen Vordenkern als "ein Krankheits-Phänomen" betrachtet werden. Die aktuellen Probleme inklusive der durch eine von der Realökonomie losgelösten Geldwirtschaft verursachten hätten übrigens sogenannte Realpolitiker zu verantworten, nicht Utopisten, warb Oskar Negt dafür, neben dem "Tatsachenmenschen auch dem "Möglichkeitsmenschen" Raum zu geben. Denn: "Nichts ist alternativlos."